Autorin: Ulrika Engler
Politische Bildung in einer digitalen Welt
Digitalisierung verändert Gesellschaft, ja die ganze Welt in rasantem Tempo. Doch welchen Einfluss hat sie auf Demokratie? Und wie können wir die Welt im digitalen Zeitalter gestalten? Wie groß sind politische und gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten – oder sind wir den Entwicklungen gar machtlos ausgeliefert? Soll, ja muss politische Bildung diese digitalen Wege nutzen?
1. Alle Welt redet über Digitalisierung
Es gibt kaum einen Bereich unserer Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, den die Digitalisierung nicht betrifft.
Den einen erscheint sie als Heilsversprechen: Dank der Digitalisierung kann der Arbeitsplatz irgendwo auf der Welt, an einem Ort der Wahl, eingerichtet und die Arbeit z.B. mit dem Laptop am Strand erledigt werden. Per Social Media können die Menschen sich weltweit über Interessen austauschen; via Messenger-Services lassen sich spontane Meetups verabreden und mit Working-Out-Loud-Formaten sind die eigenen Ziele schneller erreicht. Auf der Suche nach einem Kochrezept hilft YouTube weiter und für jedes erdenkliche Problem im Haushalt gibt es einen Lifehacks-Blog. Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt.
Für die anderen aber gleicht Digitalisierung einer Apokalypse: Oft wird sie als Welle beschrieben, die uns überrolle. Datenschutz wird als bloßer Wunschtraum aus alten Zeiten dargestellt; Arbeitsplätze würden hinweggefegt; Teilhabe sei passé. Bücher, die vor einer technologischen und gesellschaftlichen Apokalypse warnen, haben Hochkonjunktur. Die Publikationen des Psychiaters Manfred Spitzer mit alarmistischen Titeln wie „Cyberkrank“, „Vorsicht Bildschirm!“ und „Digitale Demenz“ wurden viel verkauft.
Zugegeben: „Heilsversprechen vs. Apokalypse“ ist eine Zuspitzung in beide Richtungen. Prof. Sascha Friesike, der an der VU Universität in Amsterdam zu digitalen Innovationen lehrt und forscht, wies auf unserer LpB-Tagung einen dritten Weg, nämlich den der skeptischen Neugier. Neugier – als ein grundsätzliches Interesse an Neuem – sei nur sinnvoll, wenn wir gleichzeitig Skepsis mitbrächten und uns intensiv damit beschäftigten, wie wir digitale Technologien in unserem Sinne und nicht nur im Sinne des Herstellers_der Herstellerin einsetzen könnten.
Doch welchen Einfluss hat Digitalisierung auf Demokratie und unser Zusammenleben – und vor allem auf die Möglichkeiten, zu gestalten und mitzubestimmen?
Um den Antworten auf diese Fragen auf die Spur zu kommen, müssen wir dringend eine zwar kritische, aber doch konstruktive Debatte über Netzpolitik und Auswirkungen sowie Chancen der Digitalisierung für politische Bildung führen.
2. Das Netz: Chancen und Herausforderungen für Demokratie
Allein in der letzten Zeit standen unzählige netzpolitische Themen auf der Agenda und sind zu tagespolitischen Top-Themen aufgestiegen, wie Netzneutralität, oder der Umgang mit Social Bots. Netzpolitik ist keineswegs ein klar definierter Begriff. Doch egal, ob es sich dabei nun um ein Politikfeld im Entstehen oder um ein etabliertes Politikfeld handelt: Allein die Ernennung von Digitalminister_innen auf Bundes- und Landesebene sowie die Einrichtung eines Ausschusses „Digitale Agenda“ im Bundestag lassen auch im politischen Raum zunehmende Institutionalisierungstendenzen erkennen.
Richtig ans Eingemachte geht es für unsere Demokratie, wenn Wahlen manipuliert werden. Der Skandal um Cambridge Analytica erhitzte daher die Gemüter und warf die Frage auf, inwiefern Facebook – ein soziales Netzwerk, das viele Millionen Menschen oft sorglos nutzen – damit zum Demokratiegefährder wird, statt als Plattform für freiheitsstiftenden Austausch Hoffnungsbringer für die Demokratie zu sein. So zeigt auch eine Eurobarometer-Umfrage, dass ein Großteil der EU-Bürger_innen sich um Wahlmanipulation durch Cyberattacken sorgt.
Klar ist: Die politische Kommunikation ändert sich unter dem Einfluss von Digitalisierung. Dies zeigt sich an einem schnelleren Takt, einer Themensetzung, die sich daran orientiert, dass Themen geliked, geshared und kommentiert werden können, und daran, dass Akteur_innen sich neu vernetzen.
Allenthalben ist die Rede von Fake News, Cyberkriminalität, Social Bots und Hasstiraden im Netz. Die aktuelle Debatte kreist häufig um neue oder in ihrer Brisanz verstärkte Phänomene politischer Kommunikation unter den Einflüssen der Digitalisierung. Digitale Hasskriminalität und Hetze zeigen, dass der demokratische Diskurs durch eine Ausbreitung nicht-zivilisierter Formen der Auseinandersetzung erheblichen Schaden nehmen kann. Der Politikwissenschaftler Prof. Wolf J. Schünemann plädiert daher für einen „aufgeklärten Umgang mit diesen Erscheinungsformen digitalen Wandels“; es sei zu unterscheiden „zwischen den einzelnen Gegenständen, ihren Voraussetzungen und Auswirkungen“.
Auch im Europawahlkampf 2019 wurde die Veränderung in der politischen Kommunikation sichtbar. Parteien erhöhen ihre Ausgaben für den digitalen Wahlkampf und entwickeln ihre Konzepte weiter.
Gestalten und Mitbestimmen durch digitale Medien
Wie bei kaum einem anderen Medium verbindet sich mit dem Internet die Hoffnung auf eine umfassende Demokratisierung. An jedem Ort Zugriff auf jede Information zu haben, sich daraus eine Meinung zu bilden als Grundlage für demokratische Teilhabe und Willensbildung: Das ist zweifellos eine verlockende Vorstellung. Gleichzeitig haben sich über das bzw. im Netz neue Formen der politischen Partizipation entwickelt – die Bandbreite reicht von Online-Petitionen über die digitale Beratung von Bürgerhaushalten bis hin zu Online-Konsultationsverfahren von Parteien. Auch die Protestformen sind durch das Internet vielfältiger geworden, Massen lassen sich digital deutlich leichter mobilisieren.
Eigentlich ist das trockene Urheberrecht viel zu abstrakt und kompliziert, zu weit vom Alltag vieler Menschen entfernt, um Demonstrant_innen auf die Straße zu locken – könnte man meinen. Die EU-Urheberrechtsreform hat es trotzdem geschafft. Allein in Deutschland demonstrierten mehr als 150.000 – v.a. auf digitalem Wege mobilisierte – Menschen. Eine Petition wurde ebenfalls eingereicht, die mit über 4,7 Millionen Unterschriften, davon rund 1,3 Millionen in Deutschland bis dato zu den größten Online-Petitionen weltweit gehört. Auch viele Kinder und Jugendliche gingen nicht nur für den Klimaschutz auf die Straße, sondern auch gegen die Urheberrechtsreform. Viele sehen in der neuen Regelung eine Einschränkung der Informationsfreiheit, der existenziellen Grundlage demokratischer Teilhabe.
Nicht zuletzt angesichts dieser massiven Proteste gibt es erste Untersuchungen darüber, inwiefern netzpolitische Themen wie z.B. die Debatte um Upload-Filter zunehmend relevant für den Ausgang von Wahlen werden. YouTuber_innen verfügen über riesige Netzwerke, die sie spontan und schnell mobilisieren können. Bei tendenziell knapperen parlamentarischen Mehrheiten aufgrund der Zersplitterung der Parteienlandschaft kann eine Mobilisierung durch die immer stärker werdende Netz-Community durchaus Einfluss auf Wahlergebnisse und damit auf die Regierungsbildung nehmen.
Die Diskurse um Digitalisierung sind also, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen Chancen und Risiken. Entscheidend ist, dass Digitalisierung eine gesellschaftliche Gestaltungsperspektive und -aufgabe bietet und damit zentraler Bestandteil politischer Bildung sein muss.
3. Die Rolle der politischen Bildung
Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden einige Thesen zur Diskussion stellen, die für die politische Bildung in der digitalen Welt aus meiner Sicht zentral sind. Sie sind neben den Erkenntnissen aus der Niedersächsischen Landeszentrale auch inspiriert durch den interessanten Kongress über Neue Medien und politische Bildung, den die Transferstelle politische Bildung bereits 2015 durchgeführt hat. Um es vorwegzunehmen: Es kann nicht darum gehen, dass sich politische Bildung größtenteils ins Netz verlagert. Vielmehr geht es darum, die Chancen der Digitalisierung stärker für die politische Bildung zu nutzen sowie Analog und Digital zusammenzudenken – wie es auch der Lebenswelt fast aller Menschen in Deutschland heutzutage entspricht.
- Netzpolitische Themen aufgreifen
- Lebensweltliche Orientierung ernst nehmen
- Chancen für Partizipation nutzen
- Trial and Error
Der Einsatz digitaler Medien bringt viele neue Herausforderungen mit sich. Technische, rechtliche und methodische Fragen sind zu klären. Durch die rasanten Entwicklungen muss mit ständigen Veränderungen umgegangen werden. Daher sind Experimentierfreude, Mut zur Lücke und eine offene Fehlerkultur wichtige Haltungen. Nur so wird gelingen, dass digitale Methoden nicht nur altbewährte Formate in neuem Gewand sind.
- Digital Divide
Auch wenn fast alle Menschen in Deutschland Zugang zu digitalen Medien haben – das Informations- und Kommunikationsverhalten, die rezipierten Inhalte und der Umgang mit eigenen Inhalten sind von Gruppe zu Gruppe verschieden. Politische Bildung muss den Anspruch verfolgen, die im Netz stattfindende Reproduktion von Ungleichheit aufzuzeigen und wenn möglich auszugleichen, wollen wir Teilhabe allen ermöglichen. Daher müssen bei der Entwicklung von online-Angeboten verstärkt soziale Ungleichheiten beachtet werden. Zudem müssen wir uns fragen, wer bereits wirkmächtig seine Interessen online organisiert und einbringt und wer verstärkt in den Blick genommen werden muss. Durch den Einsatz digitaler Medien und die Präsenz politischer Bildung im digitalen Raum lassen sich neue und bislang von der politischen Bildung kaum erreichte Zielgruppen adressieren.
- Die digitale Welt braucht eine neue Arbeitskultur
Wir stehen am Anfang und sind doch schon mitten drin. Ebenso wie Digitalisierung Raum greift im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben, so braucht auch die politische Bildung Antworten auf diese Entwicklungen. Voraussetzung dafür ist zunächst, die richtigen Fragen zu stellen. Oft sind gute Fragen der Ausgangspunkt für neue Ideen. Und diese Ideen brauchen wir dringend für den breiten fachlichen Diskurs über politische Medienbildung in der digitalen Welt!
Dieser Artikel wurde in voller Länge in den Hessischen Blättern für Volksbildung in Heft 3/2019 „Demokratiebildung II“ veröffentlicht.