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Die Auflösung des Niedersächsischen Landtages im Jahr 1970

Am 21. August 2017 hat der Niedersächsische Landtag zum zweiten Mal in der niedersächsischen Landesgeschichte seine Auflösung beschlossen. Ursache hierfür war der Fraktionswechsel einer Abgeordneten, wodurch die Regierungskoalition aus SPD und Grünen ihre Ein-Stimmen-Mehrheit im Parlament verloren hatte. Weitaus verwickelter war die Lage im Jahr 1970, als sich der Niedersächsische Landtag zum ersten Mal für seine Selbstauflösung entschieden hat. Wie es dazu kam und welche Folgen die Parlamentsauflösung damals hatte, soll in diesem Beitrag dargestellt werden. Dazu ist zunächst ein Blick in das Jahr 1967 zu werfen.


Denn die seit 1965 bestehende Große Koalition aus SPD und CDU wurde auch nach der Wahl des Niedersächsischen Landtages vom 4. Juni 1967 fortgesetzt. Georg Diederichs (SPD) blieb Ministerpräsident. In seiner Regierungserklärung vom 5. Juli 1967 betonte er, dass die Zusammenarbeit von SPD und CDU bislang „gut und harmonisch“ gewesen sei. „Sie hat sich auf die Ergebnisse der Regierungstätigkeit in den vergangenen beiden Jahren der gemeinsamen Arbeit positiv ausgewirkt.“ (zit. nach Niedersächsischer Landtag: Verhandlungen des Niedersächsischen Landtages. 6. Wahlperiode 1967. Stenographische Berichte Band 1, Hannover 1968, Spalte 28) Doch dieses gute Miteinander zwischen SPD und CDU sollte sich nicht mehr einstellen, im Gegenteil: Auf mehrere Koalitionskrisen folgte schließlich 1970 die Auflösung des Niedersächsischen Landtages.


Das Verhältnis der beiden Koalitionspartner SPD und CDU war nach der Regierungsbildung vom 5. Juli 1967 deutlich schwieriger als zuvor. So nahmen die inhaltlichen Differenzen zu. Diese gingen sogar so weit, dass SPD und CDU bei einem Gesetzentwurf gegeneinander abstimmten. Hinzu kamen Probleme in den einzelnen Ministerien. Beispielsweise reagierten selbst Parteifreunde mit Kritik auf das Handeln von Innenminister Richard Lehners (SPD). Einer der Vorwürfe lautete, er habe bei Kundgebungen gegen die NPD, die damals mit zehn Abgeordneten im Niedersächsischen Landtag vertreten war, die Polizei zu hart auftreten lassen.

Foto des Niedersächsischen Landtags   Bildrechte: Archiv des Niedersächsischen Landtages
Der Landtag in der 6. Wahlperiode

Fraktionswechsel am laufenden Band

Dass die Große Koalition schließlich zerbrach, ist jedoch in erster Linie auf mehrere Fraktionswechsel zurückzuführen. Zunächst, im April 1969, wechselten drei Abgeordnete der FDP in die CDU-Fraktion. Sie protestierten damit gegen die Entscheidung der Bundes-FDP, den Sozialdemokraten Gustav Heinemann bei der Bundespräsidentenwahl zu unterstützen. Durch diesen Fraktionsübertritt wurden die Fraktionen von SPD und CDU mit je 66 Abgeordneten gleich stark. Im Oktober 1969 verließ dann ein Abgeordneter der SPD, Walter Baselau, seine Fraktion und wurde fraktionslos, sodass sich das Verhältnis der Koalitionspartner zugunsten der CDU verschob: Sie verfügte weiterhin über 66 Abgeordnete, die SPD hingegen nur noch über 65 Abgeordnete.


Auch die Tatsache, dass aus der Bundestagswahl vom 28. September 1969 eine sozialliberale Koalition hervorgegangen war, erschwerte die Zusammenarbeit der beiden großen Parteien in Niedersachsen. Die CDU konfrontierte die SPD nun mit zwei Forderungen. Sie verlangte zum einen die Stimmenthaltung des Landes Niedersachsen im Bundesrat, wenn keine Einigung im Kabinett zustande kam, und zum anderen die Verkleinerung des Kabinetts: Ein SPD-Minister sollte die Regierung verlassen, um Ausgewogenheit zwischen den Koalitionspartnern herzustellen (je vier Regierungsämter für CDU und SPD). Diese Forderungen waren für die SPD inakzeptabel.
In dieser Situation kam es zu weiteren Fraktionswechseln. Zunächst, Mitte Januar 1970, verließ ein Abgeordneter der NPD seine Fraktion und gehörte dem Landtag kurzzeitig als Fraktionsloser an, ehe er Mitte Februar 1970 als Gast von der CDU-Fraktion aufgenommen wurde. Reguläre Mitglieder der CDU-Fraktion wurden zur gleichen Zeit der frühere SPD-Abgeordnete Baselau und eine ehemalige Ministerin der SPD, Maria Meyer-Sevenich, die ihre Fraktion erst wenige Tage zuvor verlassen hatte. Einen Abgeordneten verlor die CDU-Fraktion allerdings auch: Hans Eck blieb bis zuletzt fraktionslos. 68 Abgeordnete der CDU standen demnach jetzt 64 der SPD gegenüber.


Die Große Koalition war unter diesen Umständen nicht mehr zu retten. Ministerpräsident Diederichs rief daher die vier CDU-Minister zum Rücktritt auf. Da diese der Aufforderung nicht nachkamen, entließ Diederichs die CDU-Minister und bat den Landtag um die nach der Landesverfassung erforderliche Bestätigung. Sein Antrag fand jedoch keine Zustimmung, da ihm dafür die nötige parlamentarische Mehrheit fehlte – die vier Minister der CDU blieben im Amt. Dasselbe Schicksal hatte kurz zuvor der Antrag der SPD-Fraktion auf Landtagsauflösung erfahren – auch er bekam nicht die notwendige Stimmenmehrheit.

Foto von Georg Diederichs Bildrechte: Bundesarchiv, B 145 Bild-F030208-0026 / CC-BY-SA 3.0
Georg Diederichs: Ministerpräsident von Niedersachsen 1961-1970

Die Auflösung als einzige Lösung einer festgefahrenen Situation

Die Lage schien festgefahren: In der Regierung saßen Minister, die nicht mehr das Vertrauen des Ministerpräsidenten besaßen, während die CDU-Fraktion einen aussichtslosen Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten stellte. Über diesen wurde nie abgestimmt, weil sich erneut Veränderungen im Stimmenverhältnis ergeben hatten: Da die von der SPD zur CDU gewechselte Abgeordnete Meyer-Sevenich verstorben war, hatte für sie ordnungsgemäß ein SPD-Politiker im Landtag Platz genommen, sodass einer CDU-FDP-Koalition eine Stimme zur erforderlichen absoluten Mehrheit fehlte. Überdies hatte die niedersächsische FDP einer schwarz-gelben Regierung schon vor dem Misstrauensantrag eine Absage erteilt. Entscheidend hierfür war die Tatsache gewesen, dass der CDU-Fraktionsvorsitzende Bruno Brandes verkündet hatte, zwei weitere Abgeordnete der NPD abgeworben zu haben.


Statt für eine Koalition mit den Christdemokraten sprach sich die FDP nun für Neuwahlen aus. Die CDU, die ihre Bemühungen um eine schwarz-gelbe Koalition damit aufgeben musste, stellte infolgedessen am 1. April 1970 einen Antrag auf Auflösung des Landtages. Gleichzeitig beantragte die SPD zum zweiten Mal die Parlamentsauflösung. Doch bevor es zur Abstimmung über diese beiden Anträge kam, stand in der Landtagssitzung vom 1. April 1970 ein von der FDP-Fraktion eingebrachter Entwurf zur Verfassungsänderung zur Diskussion: Statt einer Parlamentsauflösung schlugen die Freidemokraten eine verkürzte Wahlperiode vor, deren Ende von der Landtagsmehrheit zu beschließen wäre.


Dieser Antrag wurde dem Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen des Landtages überwiesen. Dieser änderte ihn dahingehend, dass der Landtag zwar seine Selbstauflösung beschließen, aber gleichzeitig nach dem Auflösungsbeschluss für maximal sechzig Tage bis zur Neuwahl weiter amtieren konnte. Auf diese Weise wurde seine Handlungsfähigkeit gesichert. Diese Verfassungsänderung nahmen die Landtagsabgeordneten am 20. April 1970 mit knapper Mehrheit an.


Bereits am nächsten Tag stimmte der Landtag für seine Auflösung. Damit war der Nieder-sächsische Landtag das erste Parlament der Bundesrepublik Deutschland überhaupt, welches seine Selbstauflösung beschloss. Dies geschah mit einer Gegenstimme – genau wie 47 Jahre später, am 21. August 2017.


Die Landtagswahl fand am 14. Juni 1970 statt. Die SPD erreichte mit 46,3 Prozent der Stimmen einen knappen Sieg vor der CDU, die 45,7 Prozent bekam. Die FDP und die NPD scheiterten – anders als 1967 – an der Fünf-Prozent-Hürde. Damit gab es zum ersten Mal in der Geschichte des Landes Niedersachsen einen nur aus zwei Parteien bestehenden Landtag. Der langjährige Minister Alfred Kubel, den die SPD bereits im November 1969 als Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt benannt hatte, bildete infolgedessen im Juli 1970 die erste Alleinregierung einer Partei in Niedersachsen.


Die Autorin:

Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie forscht u.a. zu niedersächsischer Landespolitik.

Weiterführende Lesehinweise:
1. Zum Ende der Großen Koalition 1969/1970:
Münkel, Daniela: Von Hellwege bis Kubel. Niedersachsens politische Geschichte von 1955 bis 1976, in: Steinwascher, Gerd in Zusammenarbeit mit Schmiechen-Ackermann, Detlef und Schneider, Karl-Heinz (Hrsg.): Geschichte Niedersachsens, Bd. 5: Von der Weimarer Repub-lik bis zur Wiedervereinigung, Hannover 2010, S. 683–734.
Renzsch, Wolfgang: Alfred Kubel. 30 Jahre Politik für Niedersachsen. Eine politische Biographie, Bonn 1985, S. 128–141 und S. 150 f.
Simon, Barbara (Bearb.): Abgeordnete in Niedersachsen 1946–1994. Biographisches Handbuch, Hannover 1996.
Toews, Hans-Jürgen: Die Regierungskrise in Niedersachsen (1969/70). Parteienstaat und parlamentarisches Regierungssystem in der Verfassungspraxis, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Jg. 96 (1971), H. 3, S. 354–391.
Vogt, Hannah: Georg Diederichs, Hannover 1978, S. 127–143.
Wettig-Danielmeier, Inge: Die erste Selbstauflösung eines Parlaments, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 1 (1970), H. 2, S. 269–284.

2. Allgemein zur niedersächsischen Landespolitik:
Nentwig, Teresa et al. (Hrsg.): Die Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen: Landesvä-ter und Landesmanager. Politische Führung von Hinrich Wilhelm Kopf bis Christian Wulff, Hannover 2012.
Nentwig, Teresa/Werwath, Christian (Hrsg.): Politik und Regieren in Niedersachsen, Wiesbaden 2016.

Artikel-Informationen

erstellt am:
05.10.2017
zuletzt aktualisiert am:
26.11.2019

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